Galerie b2

Die liegende Acht

„Unendlichkeit“ – nicht mit dem Wort an sich haben Hayahisa Tomiyasu und Anna Vovan die gemeinsame Ausstellung in der Galerie b2 betitelt, sondern mit dem dafür verwendeten Symbol. Die liegende Acht markiert dabei ebenso zur Form geronnene Bewegungsspur, wie sie für die Aufladbarkeit von Zeichen allgemein steht. Beide Aspekte finden sich auch in den hier ausgestellten, unterschiedlichen Arbeiten der Künstlerin und des Künstlers wieder. Von der Fotografie herkommend, haben beide ihre Praxis über einen starren oder technischen Medienbegriff hinaus in den breiteren Rahmen des „Fotografischen“ entwickelt. In diesem als post-medial zu verstehenden Arbeitsbereich sprengen Abdruck, Prozessspur oder Lichtzeichnung die engeren Grenzen der ikonischen Abbildung, wie sie Fotografien als Repräsentationen gemeinhin oft zugeschrieben werden. Der medial breiter gefasste Begriff des „Fotografischen“ öffnet das Gezeigte zur poetischen Mehrdeutigkeit oder Zeichenhaftigkeit hin. So entfalten Vovan und Tomiyasu in den scheinbar glatten Oberflächen fotografischer Abzüge Vielschichtigkeit – manchmal Doppelbödigkeit.

Wenn die von den KünsterInnen aus unterschiedlichen Perspektiven angestellten Beobachtungen vom geteilten Zugang über das „Fotografische“ zeugen, arbeiten die beiden dennoch weder gleich, noch ähnlich. Tomiyasu geht meist seriell oder sequenziell dokumentierend vor. Mit Ausdauer und Intuition spürt er situativ Momente auf, die während sie Zeugnis von gesellschaftlichen Bedingungen ablegen, über sich selbst, die Zeit und den Raum hinausweisen. Vovan dagegen (de-)konstruiert Fotografie oder das „schöpferische“ Moment der Aufzeichnung. Dadurch rückt sie die verstreichende Zeit in den Blick. Orte oder Räume treten dabei zwar spezifisch, aber nur schemenhaft in Erscheinung.

Bei einem Zoobesuch fiel Tomiyasu die Tretspur eines Nashorns im Gehege auf. In einer Serie von acht intimen, kleinformatigen, schwarz-weiss Abzügen (∞, 2018) lädt er uns ein, den ausgetretenen Nashornpfad nachzuvollziehen – so wie er sich auf dem Boden durch das Gehen des Tieres abzeichnet: Handelt es sich um reinen Zufall oder nimmt das Tier gar (un-)willkürlich mit den ZoobesucherInnen Kontakt auf? Formuliert es stummen Protest über die eng gesetzten Grenzen des Geheges indem es beharrlich einen symbolischen Unendlichkeits-Pfad einschlägt? Die Qualität der Arbeit liegt nicht darin, abschliessende Antworten anzubieten oder etwa Kritik zu formulieren. Was verblüfft, ist vielmehr die philosophische Dimension in Alltagssituationen. Begegnen wir ihnen mit Achtsamkeit, geraten wir auch ins Nachdenken darüber, was das „Tier“ Mensch ausmacht. In der Arbeit NA T 250 LR (2016-2017) zeichnet Tomiyasu eine andere Konstellation nach. Das abstrahiert wirkende Sujet eines Strassenlaternenkopfes wird zum Ausgangspunkt einer seriellen Betrachtung. Die Laterne tritt aufgrund wechselnder Tageszeit-, Beleuchtungs- und Belichtungssituationen vor dem Hintergrund eines gegenüberliegenden Neubaus in Erscheinung. Normiert wirkt die Lampe, aber auch die Fassade des Wohnbaus im Bildhintergrund. Die fotografische Perspektive bleibt dementsprechend über die umfassende Serie hinweg nüchtern-sachlich ausgerichtet. Innerhalb dieser Rahmungen widersetzt sich das unablässige Schwirren und Flirren von Schneeflocken oder Mücken, die nächtens vor dem Lichtstrahl ihren Tanz aufführen, jeglicher Berechenbarkeit. Tomiyasus Aufzeichnungen stellen diese Bewegungsspuren ohne viel Aufhebens dem in Design, Architektur und Fotografie vom Mensch geleisteten, konventionellen Gestaltungsakt gegenüber.

Anna Vovans Webcam-Drawings (2018) haben sich aus früheren Echtzeit-PassantInnen-Studien auf öffentlichen Plätzen zu einer komplexen Medienreflexion im 21. Jahrhundert entwickelt. Via Internet wählt sie Webcams, die einen Blick auf öffentliche Plätze weltweit wiedergeben, an und projiziert deren Abbild auf Glasscheiben in ihrem Atelier in Leipzig. Darin klingt ein Spannungsverhältnis an. Soll ein öffentlicher Platz überhaupt von einer Webcam aufgezeichnet werden? Was passiert, wenn dieses Bild in die abgeschiedene Ateliersituation der Künstlerin übertragen wird? Inwiefern ist Mobilität zur Bedingung künstlerischen Arbeitens im 21. Jh. geworden? Als ob Vovan ein ‘Tracking’ durch mediale Aufzeichnung ad absurdum führen wollte, zeichnet sie die Bewegungen von Menschen, die auf dieser von lokal situierten Architekturen geschaffenen Bühne auftreten, auf der Glasscheibe nach. Zurück bleibt eine PassantInnen-Spur. Dabei entsteht ein abstraktes Bild, das nur gemässigt Vovans eigenem Gestaltungswillen unterliegt. Es sagt dabei ebenso viel über Ort und Zeit aus, als es Informationen aus dieser scheinbaren Gleichung subtrahiert. Wiederum geraten Alltagsmuster in den Blick. Wenn Vovan diese aufnimmt, umreisst sie damit ein Spannungsfeld zwischen Bedingtheit und Beliebigkeit.
Wie Gegenstände für den geistigen Gebrauch wirken die in der Serie Untitled (2016 –) inszenierten Anordnungen. In den von Vovan konstruierten Situationen erweitern sich Gegenstände, Spiegelflächen und Raum gegenseitig im Gerinnen zur Fotografie zu einer mehrschichtigen Reflexion. Wie in einem Notizbuch skizziert und doch sorgfältig arrangiert wenden sie unseren Blick wiederum von einem anderen Ausgangspunkt zur Frage, wie wir Unendlichkeit angesichts unserer eigenen begrenzten Lebens-Zeit und -Räume erfahren.

In der Gegenüberstellung entfalten die ausgestellten Arbeiten das Potenzial im Blickwechsel die Aufmerksamkeit der BetrachterInnen für die jeweils andere Position zu schärfen. Die Künstlerin und der Künstler stellen, selbst wenn sie die Menschen als konkrete Sujet aus ihren Bildmotiven abziehen, die sozialen Bedingungen von gebauten und gebrauchten Umwelten ins Zentrum. Durch den Einbezug begrenzt kalkulierbarer Faktoren wie die Bewegungen von Mensch und Tier, gelingt es beiden auf unterschiedliche Art ihre eigene Position als KünstlerIn, SchöpferIn oder als AutorIn auf Konstellationen zu verteilen und dabei geschickt zu unterlaufen.

Gabrielle Schaad (im Juni 2018)

Hayahisa Tomiyasu, NA T 250 LR 2016–2017, Serie Pigment Print, je 85 × 65 cm, Auflage: 2 + a.p. 1
Hayahisa Tomiyasu, NA T 250 LR, 2016–2017 Edition, Auflage: 10 + 2 a.p. 29 × 22 cm, Pigment Print
Anna Vovan, Webcam drawings / Aristoteles-Platz_Thessaloniki_Griechenland (Panoramablick vom Electra Palace Hotel), 2018 Glas, pigmentierter Marker, Holzleiste, 110 × 160 cm 15 × 21 cm
Detail
Anna Vovan, untitled (Cape), untitled (Phantom), 2018, 50 × 35 cm, gerahmt, Pigment Print
Anna Vovan, untitled (Narziss), 2018, 50 × 35 cm, gerahmt, Pigment Print
Hayahisa Tomiyasu, ∞ 2018, 8 Bilder, Pigment Print je 22,5 × 17 cm, Auflage: ∞
Edition, Auflage: 10 + 2 a.p. 29 × 22 cm, Pigment Print, Hayahisa Tomiyasu, NA T 250 LR, 2016–2017, Anna Vovan, Webcam drawing, 2018