Galerie b2

Bea Meyer, S#3, 2023, Stopfgarn auf Satin, 30 x 62 cm

STREUUNGEN

Das griechische Verb diasperein (zerstreuen) bezeichnete, laut dem Ethnologen Matthias Kings, ursprünglich einen abrupten aber natürlichen Prozess, nämlich „das fruchtbare Wegbrechen der Samen eines Pflanzenkörpers, das den Organismus zugleich zerstreut und reproduziert.“ Die schwarzen Partikel, die Bea Meyers Stickereien, Fotografien und Drucke besiedeln, sind ebenfalls Ergebnisse eines abrupten Wegbrechens. Es sind Schnittflusen, entstanden beim Zerschneiden schwarzen Stoffes. Unbemerkt fielen sie auf die weiße Tischplatte und schließlich in das Blickfeld der Künstlerin. Sie lagen da wie Samen, wie Stoffpfeffer, der mit textiler Mühle ins Nichts gewürzt wurde, lagen da wie Schrot, Saat, Streu. Ohne Aufgabe, ohne Fähigkeit ruhten sie im Zustand zufälliger Verteilung und erregten Meyers Interesse für eine Ästhetik der abrupten Distribution. Mit kulturellen Mitteln und Techniken reproduzierte sie das zerstreute Material bzw. die materialisierte Streuung – um den Vorgang zu verstehen und damit einem dringenden Interesse am Spontanen und Zufälligen zu folgen, das die Künstlerin in den letzten Jahren zunehmend entwickelt hat.

Mit intuitiven, spielerischen Verfahrensweisen halten neue Themen und Ausdrucksformen Einzug in Bea Meyers Werk. Diese setzen sich jedoch in Bezug zu ihrem bisherigen Schaffen, anstatt sich davon zu lösen. Streuungen nennt Meyer ihre neueste Werkgruppe und verweist damit auf einen Begriff aus der Statistik, deren Darstellungs- und Erschließungsmethoden sie sich in einer Vielzahl älterer Arbeiten als künstlerischen Strategien und Verfahrensweise angeeignet hat – spekulative Annahmen, Gespräche führen, Daten sammeln und schließlich die Übersetzung der Ergebnisse in ein Zeichensystem. Was in diesem Zeichensystem gemeinhin unsichtbar wird, nennt man im statistischen Jargon Streuungen – Werte, die um das Ergebnis der statistischen Berechnung streuen, den abgebildeten Mittelwert. Auf welche Mitte, welche errechnete Norm, beziehen sich aber Meyers Streuungen? Wo ist die Stabilität und Akzeptanz versprechende Richtungsvorgabe, zu der sie sich verhalten? Die Antwort ist schlicht und einfach, dass es sie nicht gibt. Die Mitte ist eine Erinnerung an eine fiktive Ganzheit, eine Halluzination. Bea Meyer hat sie fruchtbar Wegbrechen lassen und diesen Moment immer wieder reproduziert. Wo sonst langwierige Überlegungen und konzeptionelle Verfahrensweise der konkreten Arbeit am Material vorausgehen, hat Meyer der Plötzlichkeit eines scheinbar bedeutungslosen Ereignisses erlaubt, eine umfassende künstlerische Produktion in Gang zu setzen. Ohne auf handwerkliches Können, Präzession und konzeptionelle Strenge zu verzichten, räumt Meyer mit Streuungen der Ästhetik des Abrupten eindrucksvoll eine neue Bedeutung in ihrer Arbeit ein.

Carsten Tabel, 2024

Bea Meyer, S#10, 2023, Stopfgarn, Stickgarn, Baumwollgarn, Leinengarn, Druck auf Vliespapier, 34 x 29 cm
Bea Meyer, S#2, 2023, Stickgarn, Sliver-Nähgarn auf Druckleinwand, 27 x 33 cm
Bea Meyer, S#8, 2003/2023, Klebefolie, 22 x 28 cm
Johannes Makolies
triceps I, 2023, Mixed Media, 48 x 15 x 15 cm
oceanwide, 2024, Mixed Media, 62 x 12 x 12 cm
triceps II, 2023, Mixed Media, 15 x 33 x 33 cm

Johannes Makolies setzt sich intensiv mit der Form- und Materialsprache urbaner Räume und städtischer Architektur auseinander. Makolies’ Arbeiten rekurrieren dabei formal wie ästhetisch in vielfältiger Weise auf Bezugssysteme unserer künstlich geschaffenen Umwelt und bewegen sich zunehmend an der Schnittstelle von bildender Kunst und Materialforschung. Die Sichtbarmachung von Materialeigenschaften in Verbindung mit einer bildhauerischen Form und deren Wirkung im Raum sind Gegenstand seiner Forschung.
Kennzeichnend sind neben klaren Konturen und einer eher minimalistischen, bisweilen brutalistisch anmutenden Formgebung die Kombination von klassischen Bildhauermaterialien (Beton, Glas, Stahl) mit eher untypischen Werkstoffen wie Bauschaum, Acryl, Epoxidharz, Carbon- und Glasfasern; auch Fundstücke sind ein wiederkehrendes Moment seiner Arbeit. Aus der Kombination, Überarbeitung, Reihung und Variation ergibt sich nicht nur eine oft eigenwillige Materialästhetik, sondern auch eine besondere bildnerische Qualität und Tiefe, die sich aus der Energie des Vergangenen speist aber gleichzeitig auf Zukünftiges verweist.

Johannes Makolies, 4D.r, 2013, Mixed Media, 51 x 87 x 26 cm
Johannes Makolies, bond, 2022, Mixed Media, 4 x 90 x 5 cm
Johannes Makolies, sonic, 2024, Mixed Media, 120 x 8 x 8 cm
Bea Meyer, Rauschen#3, 2020, bedruckte Seide auf Wolle gefilzt, 367 x 437 cm

RAUSCHEN

Tanzende Bildpunkte, Schneetreiben oder abstrakte Hieroglyphen auf geschrumpften Fasern ? »Rauschen #3« will unser Verlangen nicht bedienen, Bildhaftes mit einem Blick erfassen zu wollen. Ein Vorhang aus Mitteilungsbedürfnis und Verweigerung. Ein Rätsel, groß, weich und warm. Ein Datenträger, zeitlos und schwer datierbar, von Gravitation gestrafft. „Daten seien das neue Öl“, ein neuer gewinnbringender Rohstoff. Die digitale Masse der über uns Individuen gesammelten Informationen speichern form- und materielos auf Servern an lapidaren Orten dieser Welt.
Bea Meyer gibt ihren Daten eine neue Form und eigene Materialität. Sie verkleinert und verdichtet die digitalisierten Schriftbilder ihrer handschriftlichen Kalendernotizen der letzten 15 Jahre zu einem textilen, wandfüllenden Display und hängt es in die Öffentlichkeit. Der kryptischeText ist die ‚Message‘. Der Klartext liegt in Meyers Buch „VOR“ offen.
Lebensläufe sind sprudelnde Datenquellen geworden. Unser Online-Alltag fliest twentyfourseven in digitalen Häppchen in die Speicherkammern fremder Firmen. Unser Ich verdichtet sich woanders als digitales Abbild. Wir haben einen Speicherplatz in Gesellschaft, eine als Wolke getarnte Ruhestätte. Klick um Klick wandert unser Ich hinüber, um in Echtzeit zum Steinbruch Künstlicher Intelligenzen zu werden. Wir sind jetzt Verfügungsmasse aktiver Algorithmen, die uns Loyalität heucheln, während sie sich an unseren Datenkörpern unbeobachtet vergreifen.
Längst sind wir nachlässig und durchsichtig, leben mit der Paranoia digital verfolgt und damit durchschaubar zu sein. Smartphones und iBooks führen automatisiert Buch über unser Tun und Lassen. Daran, dass Maschinen mehr über uns wissen als wir selbst, haben wir uns längst gewöhnt.
Bea Meyer rebelliert gegen Vereinnahmung und Fragmentierung unserer Ichs mit Autonomie. Sie ruft nach Freiheit und Unabhängigkeit, Spiel und Selbstbestimmung, nach einem Recht auf Nicht-Nachvollziehbarkeit und Vergessen. Sie wirkt ihre archaischen Bedürfnisse nach Bedeutsamkeit und Wärme in ein Gefilz aus Wolle und bedruckter Seide zu etwas größeren Ganzen, zu einem Zusammen-Hang. Sie schafft etwas Analoges, Greifbares, etwas von Hand Gefertigtes und ruft nach informationeller Selbstwirksamkeit: „Meine Daten gehören mir! Ich kann damit machen was ich will – sie aufschreiben und für alle zugänglich machen. Und – wenn ich das will – sie anderen auch wieder wegnehmen, sie verschlüsseln, oder flächendeckend löschen! Ich kann daraus Bücher machen, Bilder und Kompositionen.

Michael Grzesiak, 2020, Text zur Installation Rauschen #3, Gasteig, München, gekürzte Fassung

Bea Meyer, S#13.1 und S#1.1, 2023, Druck auf Hahnemühle UltraSmooth, je 100 x 70 cm
Bea Meyer, S#9.1 und S#11.1, 2023, Druck auf Hahnemühle UltraSmooth, je 100 x 70 cm
Bea Meyer, L7, L6, L5, L8, L10, L9, 2016, verschiedene Garne grau, schwarz gestickt auf Manilahanfpapier, je 35 x 37 cm

L-SERIE

Meyer hält Geschehnisse und Informationen fest, sammelt Daten. Sie zeichnet auf, zählt, dokumentiert, protokolliert. In der frühen Wissenschaft wird erst beobachtet und dann das Beobachtete aufgezeichnet. Heute haben wir Aufzeichnungen und ziehen daraus unsere Erkenntnisse. Meyer abstrahiert selbst erhobene Daten zu künstlerischen Formaten. Bewegungsprofile, Kalenderinhalte, Erhebungen und biometrische Daten. Wer und was bin ich als Individuum und als Teil einer abstrakten, Daten produzierenden Menge, die rund um die Uhr und den Globus ihre digitalen Spuren hinterlässt?

Meyer geht es nicht um sich selbst, sie thematisiert ihr Leben aus der Möglichkeit des Zugriffs. Sie ist fasziniert und fassungslos zugleich vom Rauschen der schieren Menge an Informationen. Die Daten werden zur künstlerischen Verfügungsmasse ihrer Arbeitsweise.

In der Serie „L“ überträgt die Künstlerin Detailaufnahmen ihrer Körperoberfläche in Bilder. Quadratische, biometrische Karten ihrer Hüllfläche zeigen Konstellationen von Merkmalen, wie die Kacheln aneinander gereihter Satellitenbilder von Landschaft. Anhand biometrischer Information kann ein Körper als Individuum identifiziert werden. Meyer spielt mit verschiedenen Maßstäben und Größen und überträgt die Bilder, analogen Karten gleich, als gestickte Wiedergabe auf Papier.

Daten sind die Rohstoffe unserer Zeit. Die Nutzung von Massendaten und deren Verknüpfung wird zur größten Resource von Erkenntnis für die Menschheit. Sie ist ökonomisch verwertbar und zu einem Machtmittel geworden. Sie ermöglicht Einfluss und Kontrolle über andere und unsere Welt. Bereitwillig liefern wir Daten an Andere für den Zugewinn von Erleichterungen im Alltag, ohne die Dimension erfassen zu können, wieviel Macht wir damit abgeben. Datenmonopole legen unsere Lebensbedingungen in die Hände Fremder. Daten“ ist ein Pluralwort, es existiert nicht in der Einzahl. Wir sind im Stande die einzelne Abfrage einer Wegbeschreibung zu visualisieren, die Masse an zeitgleichen Abfragen jedoch besitzt keine wahrnehmbare Form. Weder ist sie Bild, noch Objekt. Meyer interessiert diese Abwesenheit und sie unternimmt Versuche der Formgebung. Das Austragungsfeld ist die Abstraktion von Bedeutung, minimalistische, reduzierte Zeichenfolgen, die Verbindungen zu emotionalen Sachverhalten besitzen. Hier deckt sich das Wesen von Sprache als Schriftzeichen mit Meyers Bildern. Die Künstlerin überlässt es der Assoziation des Betrachters, den geschützten Raum des Unausgesprochenen zu betreten.

Meyer`s Arbeiten sind Positionsbestimmungen zwischen ihr und der Gesellschaft, zwischen Prozess, Bestimmung, Manipulation und Zufall. Sie untersucht Grenzlinien in den Ordnungen des Alltags zwischen Individualität und dem allgemein Gültigen. Wir führen Straßenkämpfe mit Smartphones und koordinieren Revolutionen über digitale Netzwerke. Wir können als Teil einer Gemeinschaft mit dieser gewinnen und dabei zeitgleich selbst zugrunde gehen. An unserem aufgezeichneten Verhalten, der Trägheit unserer Gewohnheiten werden wir gemessen werden. Verstehen wir Kunst als Vergegenwärtigung unserer Lebensrealität; sie eröffnet uns ein Gedankenfeld, dem wir nicht ausweichen können werden.

Michael Grzesiak, 2016, Text zur Ausstellung Landschaft und Listen, Galerie b2, Leipzig, gekürzte Fassung

Johannes Makolies
dust I, 2023, Mixed Media, 78 x 49 x 3 cm
melon, 2024, Beton, 50 x 42 x 14 cm
mud, 2024, Beton, 50 x 40 x 14 cm
rail, 2024, Gips, 15 x 5 x 80 cm
find I, 2024, Mixed Media, 69 x 12 x 10 cm
find II, 2024, Mixed Media, 15 x 72 x 12 cm
find III, 2024, Beton, 4 x 75 x 13 cm
Bea Meyer, S-Bänder, 2023-24, Edding auf Satinband, 3 cm x div.Längen
Bea Meyer, L13, 2016, verschiedene Garne grau, schwarz gestickt auf Manilahanfpapier, 130 × 125cm
Bea Meyer, S#15, 2024, Zeichnung, Foto auf Leder, 50 x 40 cm
Bea Meyer, S#16, (Fundstück), 28 x 24 cm