„Crossing the Great Stream“
Material, Selbstdisziplin und Landschaft: In ihrer dritten Einzelausstellung zeigt Selma van Panhuis Werke, die seit ihrem Aufenthaltsstipendium 2019 in Tao Hua Tan (Provinz Anhui, China) entstanden sind. Der dem I Ging entlehnte Titel „Crossing the Great Stream“ geht auf das Motiv zurück, den richtigen Augenblick für eine große Herausforderung abzuwarten und ihr schließlich mit Leichtigkeit zu begegnen. Er evoziert das Bild einer Landschaft, die in der chinesischen Sprache durch das Zusammenführen zweier Begriffe wie Berge-Gewässer oder Wind-Licht dargestellt wird. Im Kontrast zu einem europäisch geprägten Verständnis des Begriffs, für den der totale Blick konstituierend ist, geht es hier um ein aktives Dazwischensein, eine körperliche Teilnahme.
Die Arbeiten der Künstlerin reflektieren diese Körperlichkeit, die einerseits in der Selbstdisziplin des Wartens liegt – eine Suspendierung der Gewalt außengeleiteter Zwänge. Andererseits vollzieht sich diese Körperlichkeit in der Positionierung innerhalb der Landschaft, die stets eine Verbindung mehrerer Elemente zu einem als Ganzes wahrgenommenen Raum darstellt. Eine Landschaft wird erst durch den sammelnden Blick zu einer solchen; dann gilt es, sie zu durchschreiten. Diese beiden Akte stellen durch das Medium des menschlichen Körpers die Beziehungen der einzelnen Elemente erst her. Selma van Panhuis’ Bilder sind Repräsentationen dieser sinnlichen Erfahrung des Raumes, oft beeinflusst von ländlichen Gegenden, auch spirituellen Orten oder atmosphärischen Raumwahrnehmungen aus der Kindheit.
Das Künstliche jeder Landschaft kommt hier nicht in konkreten Motiven zum Ausdruck, sondern in den zeitintensiven Herstellungsverfahren sowie in der Aufmerksamkeit, die den verwendeten Materialien zukommt. Der aufwändige Prozess, als dessen Spuren die Bilder zu verstehen sind, beinhaltet die Herstellung der Farben nach alten Rezepturen sowie die Vorbereitung der Malflächen mit Haut- oder Knochenleimgrundierung. Es finden pure Stoffe wie unbehandelte Baumwolle Verwendung, die natürlichen Bindemittel und Pigmente werden selbst angemischt. In diesen handwerklichen Experimenten sowie in der Betonung stofflicher Wirkungen durch die Kombination von Holz, Baumwolle oder Gips wird ein körperliches Landschaftsempfinden erzeugt. In der Reflexion der architektonischen Bedingungen des Ausstellungsraums schafft Selma van Panhuis atmosphärische Umgebungen, die einen emotionalen Zugang über das Materielle hinaus ermöglichen.
Marcel Raabe, 2021