Galerie b2

Das Innere der Faust

Die Motive sind soziale Konstellationen – weniger die Menschen selbst, die in Anna Kempes großformatigen Aquarellen auftreten. Konstellationen von Freund:innen, partnerschaftliche Verstrickungen, Eltern-Kind-Verhältnisse. Die Melancholie, die sich einstellt, sobald zu einem Menschen ein zweiter, dritter tritt. Es sind zumeist Momente der Freundschaft, des Konflikts, einer nachdenklichen Nähe, die in den Bildern Raum bekommen. Der Blick richtet sich auf die Fürsorge einander zugewandter Menschen. Klare Familienzusammenhänge treten hinter Wesensverwandtschaften zurück.

Mit den Krebstoden beider Eltern begann Anna Kempe jedoch eine intensivere Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte, eine Retrospektive auch auf das eigene Werden als Person. Wie schreibt sich eine Biografie? Schon die protokollarischen Eckdaten, niedergelegt in Amtspapieren, eingeheftet, abgestempelt, sind eine Erzählung, die lediglich den Rahmen setzt für die Geschichte eines Menschen. Im Leben sammeln sich dessen Spuren in unterschiedlichster Ausprägung an. Ein Körper erhält Narben und zieht einen Schweif an Artefakten mit sich. Bilderalben verdichten Lebensabschnitte auf wenige Seiten. Wie viel hat die Stimme, gesprochenes Wort, mit Erinnerungen zu tun?

Hidden Treasures of the Amber Chamber

In der Audioinstallation „Hidden Treasures of the Amber Chamber“ werden Kindheitserinnerungen erzählt, Familiengeschichten weitergegeben. Großmütter berichten aus der Nachkriegszeit. Momente mit den verstorbenen Eltern blitzen auf, letzte Begegnungen. Es geht um Erbstücke, ihre Wege und Umnutzungen, Deutungsverschiebungen. Geschichten innerhalb einer Familie heften sich an solche Gegenstände. Sie begleiten eine mündliche Überlieferung, die bei jeder Übertragung neuer Interpretationen, Übersetzungen, Anverwandlungen bedarf.

Die hier präzise akzentuierte Auswahl von Gegenständen legt die Gabelungen fest, an denen sich die Geschichte entlangbewegt, sich für eine Richtung entscheidet. Die Teeschale, die von der Mutter getöpfert wurde. Das kleine gehäkelte Flugzeug einer Freundin. Die Ringe sind Erbstücke von der Urgroßmutter. Das Maxie-Wander-Bild fand sich im Nachlass des Vaters, der wiederum in Wanders Tagebüchern Erwähnung findet. Die Jacke taucht sowohl auf einem von Kempes Bildern als auch in den gesprochenen Texten auf. An dem Bernsteinsplitter wird deutlich, wie sich Erinnerungen um Objekte legen. Das Bernsteinzimmer ist ein Ort des Geheimnisses und des Verlustes, eng verwoben mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ostsee-Bernsteine wiederum sind Schätze, denen ein DDR-Kind am nächsten kam. Der Splitter hält den Sehnsuchtsort der Kindheit fest, die Suche, das Glück des Findens, auch den Wettbewerb unter Geschwistern.

Die eigene Geschichte in der Hand behalten

In der Faust schützt man kleine Schätze vor dem Zugriff von Räubern oder Schwestern. Aber man hält auch gefangen: eine Fliege oder einen Grashüpfer. Wenn man will, kann man ihn zerquetschen. Anna Kempes Eltern waren beide Töpfer:innen – ein handwerklicher Umgang mit formbarem Material für Kunst- und Gebrauchsgegenstände. Der erste Griff in den Ton macht sich vertraut mit der Konsistenz, man drückt ihn mit der zusammengezogenen Hand aus der Faust – der Greifreflex eines Säuglings und eine Forschungsbewegung: das Erfahren des Werkstoffs mit den Sinnen der Handoberfläche. Für Kempe eine Annäherung an die Lebenswelt ihrer Eltern. Die Faust ist aber auch Sinnbild für eine Gefühlsregung zwischen Widerstand und Wut. Je weniger Material die verbliebene Lücke füllt desto größer ist die Anspannung.

Kollektive Sinnzusammenhänge, zumal in einer Familie, zwischen Schwestern, werden von Ritualen geschaffen. Bricht die Kontinuität – z.B. durch Tod oder Trennung – sind Rekonstruktionen nötig. Umso mehr gilt das zwischen Generationen, Großeltern und Enkeln oder abwesenden Elternteilen. Im Gegensatz zu den privaten Räumen auf Anna Kempes Bildern behält der Ausstellungsraum einen Archivcharakter. Archive sind Steinbrüche des Gedächtnisses, Räume der Analyse, der Versuchsanordnung und des Speichers. Man kann sich daraus bedienen, umordnen. Im Labor werden Sachen auch hergestellt und näher betrachtet. Die Gleichzeitigkeit der Gedächtnisanordnung erzwingt Entscheidungen, eine Auswahl. Das kostet Arbeit – die Voraussetzung dafür, Macht über die eigene Erzählung zu behalten.

Marcel Raabe

Wie es ist bleibt es nicht, 2020
Aquarell auf Papier
192,2×143 cm,
Mimosenschauer, 2020
Aquarell auf Papier
146×201,8 cm
Freundschaft III, 2022
Aquarell auf Papier
143,3×191,2 cm
Der Quilt I, 2020
Aquarell auf Papier
70×100 cm
Der Quilt II, 2020
Aquarell auf Papier
100×70 cm
Das Innere der Faust, gebrannter Ton
Mitschrift eines Hörstücks von Cécile Wajsbrot
Bernsteinsplitter
Flugzeug, gehäkelt

Die perfekte Zeichnung

Auf einem unserer Ausflüge an die Ostsee, die in meiner Erinnerung niemals im Sommer stattfanden, sondern immer zu kalten, nassen, stürmischen Jahreszeiten, machte ich die perfekte Zeichnung. Ich zeichnete mit einem Stock in den nassen Sand, eine Figur, einen Zwerg und ich wusste, dass ich noch nie zuvor eine so gute Zeichnung gemacht hatte. Es war nicht die Bestätigung der Erwachsenen, sondern ich wusste selbst, dass hier alles stimmte, die Linie, die Proportionen, alles war perfekt und gleichzeitig wusste ich, dass diese Zeichnung vergehen würde, dass ich sie nicht würde behalten oder aufbewahren können. Das war traurig, aber auszuhalten, weil dieser Moment der Perfektion mich so erfüllte, dass er mehr Wert hatte als das Ergebnis.

Teil der Audioarbeit Hidden Treasures of the Amber Chamber

Teeschale, Raku
Ostseestein
Ringe

Neid / Scham / Väter

Ich höre die Hörspieladaption einer Performance. Testament – König Lear, She She Pop und ihre Väter. Da kommt er, der Neid. Ich kenn ihn schon, er erwischt mich, wenn ich auf der Straße eine Frau in meinem Alter mit einer 20-30 Jahre älteren Version ihrer selbst sehe. Er kommt als Stich, als Schmerz und ich muss gleichzeitig wegsehen und hinstarren. Will beobachten, will alles wissen, will wissen, wie sich das anfühlt. Bin wütend, dass diese fremde Person etwas so selbstverständlich hat, was ich niemals haben werde. Mit den Vätern kannte ich das noch nicht. Da ist die Nähe nicht so offensichtlich, öffentlich sichtbar. Aber in dem Stück, ist sie da.
Da fordern diese Kinder ihre Väter heraus. Sich auf sie und ihre Fragen
und ihre Kunst einzulassen. Und diese Väter lassen sich darauf ein und streiten und suchen und gehen in die Auseinandersetzung.
Und ich bin neidisch, eifersüchtig, frage mich aber auch, ob mein Vater das gekonnt hätte. Ob ich das gekonnt hätte. Und da kommt die Scham. Und ich weiß nicht, ob mein Vater, der nicht studiert hat und mit der männlichen Oberflächlichkeit dieser Generation geschlagen war, ob er so in Kontakt hätte gehen können? Ob ich es gewagt hätte ihn so heraus zu fordern?

Teil der Audioarbeit Hidden Treasures of the Amber Chamber

Wann hast du zum ersten Mal davon gehört, 2021
Aquarell auf Papier
146,5×116,8 cm
Japanische Wolke, 2021
Aquarell auf Papier
146,7×205 cm
Foto - Maxi Wander
Gefäß, ungebrannter Ton
My Heart, My Soul, 2021
Aquarell auf Papier
100×70 cm
Freundschaft II, 2022
Aquarell auf Papier
147,2×96,2 cm
Freundschaft I, 2022
Aquarell auf Papier
147×98,3 cm
Die alte Jacke, 2019
Aquarell auf Papier
141,2×189,6 cm
Fuck Your Monogamy, 2021
Aquarell auf Papier
134,6×109,8 cm