Zeit haben? Sie ist ein abstrakter Besitz, der sich durch die Abwesenheit von Alternativen auszeichnet, ein Nichts mit grossem Wert. Zeit spielt eine zentrale Rolle im täglichen Kalenderkampf unserer Smartdevices um Termine. Zeit ist Geld und ein Äquivalent zu Lohnarbeit. Was heißt das für eine Künstlerin? Arbeit und Lohnarbeit hätten sich längst voneinander getrennt, heißt es, aber war das nicht schon immer so? Beschäftigung, bezahlt oder unbezahlt. Lohn ist das aktuelle, monetäre Maß unserer Arbeit, nicht aber für deren Wert. Arbeiten, Herstellen, Schaffen. Der Wert unseres Schaffens ist etwas lebendiges, zeitabhängiges, ein retardierendes Moment mit Möglichkeiten zu Konstanz, Wachstum oder Verfall.
»Eine Frage der Zeit« nennt Bea Meyer ihre Ausstellung und spricht aus, was für ihre Arbeiten grundlegend ist. Immer wieder thematisiert die Konzeptkünstlerin die Rahmenbedingungen ihrer Existenz und ihres Schaffens als Positionsbestimmung unseres Daseins. Meyers subtile Arbeiten zeigen einen natürlichen, intuitiven Minimalismus mit subkutanen Wirkungen. Sie sprechen in einer eigenen Sprache über Gesellschaft, Schönheit, Zufall und unsere »Vita Activa«. Meyer stellt dar, legt offen, vergegenwärtigt Phänomene im Hintergrund. Phänomene deshalb, weil ihre Arbeiten Meinung verweigern, keine Zeigefinger, kein Verweis auf eine bessere Welt, keine Änderungsvorschläge. Wenn, sind wir es selbst, die Meyers Arbeiten als Affront verstehen, weil wir durch sie auf unsere eigenen Widersprüche treffen.
Bea Meyer ist beides zugleich, involvierte Akteurin und genaue Beobachterin unseres Lebensalltags, eine Protagonistin heute gelebter Gesellschaft. Und sie ist mittendrin. Sie ist Künstlerin, Gesellschaftsführerin und Mutter dreier Kinder. Gleichzeitig erhält sie sich eine intellektuelle Distanz und rezeptive Intuition gegenüber dem System. Ihre Themen kommen zu ihr. Trotzdem ist ihre Arbeit in aller erster Linie eines: Kunst. Die Meisterschülerin der Medienkunst weiss um die ästhetische Autonomie des einzelnen Werks. Überraschend und vielleicht einzigartiger Weise finden in ihrem Schaffen Konzeptkunst und handwerkliche Arbeit widerspruchslos zueinander. Bewusst bestimmen zeitaufwendige, handwerkliche Techniken ihre Werke. Nicht selten sitzt sie wochen-, ja monatelang an einem Werk, um mit immer gleichen Handbewegungen eine »Arbeit« fertig zu stellen.
In der aktuellen Ausstellung zeigt Meyer eine Serie großformatiger Bilder, denen die Verbindung zwischen Mensch und Maschine zugrunde liegen. Was als Bild wie eine abstrakte Verdichtung von Fragmenten zerklüfteter Küstenlinien erscheint, sind in Wirklichkeit seismografische Aufzeichnungen der Interaktion zwischen Mensch und Technik. Schwingungen zwischen Künstlerin und einer Apparatur zur Fortbewegung in hohem Drehzahlbereich. Ein Zusammenspiel aus externen Impulsen und eigener Intuition. Keine Verweise auf Ausgangspunkt oder Ziel. Strecke machen. Überlagerungen von Weg und Bewegungen. Meyer nimmt eine Begleiterscheinung der Technik in den Fokus und die Irrelevanz des Erreichen-Wollens. Vibrationen als formgebende Zuarbeiter. Sie vergrößert ihre Aufzeichnungen und überträgt sie handgestickt auf gegossenes Papier. Linien werden zu Flächen und verlieren ihre Richtung. Es bringt nichts die Geschwindigkeit zu erhöhen, wenn wir uns in die falsche Richtung bewegen.
Vielleicht liegt es am Namensgeber ihres Geburtsorts Karl-Marx-Stadt, dass Meyer Zeit und Arbeit beschäftigen. Die Parameter selbst betreffen uns alle. Beschäftigung als Spielraum zwischen Erfüllung und Überlastung. Selbstbestimmung und Selbstausbeutung einer Künstlerin in Zeiten von Gewinnbeteiligungen und Mitnahmeeffekten. Es ist dunkel, nachtgleich in dem kleinen Raum. Es hängen Leinwände mit der fluoreszierenden, sich mantraartig wiederholenden Botschaft »Arbeiten«. Infinitiv und Imperativ zugleich, als Verb ohne Personalform, für alle sozusagen, als Aufforderung oder gar Befehlsform. In Reih und Glied, ordentlich. Signalrot und Grau auf Grau steht es da, leuchtend schwach. Nein, nicht handgestickt. Meyer eröffnet hier ihren persönlichen Arbeitskampf mit, oder besser gegen, Maschinen, robotergleiche Stickautomaten, erschöpfungsfreien Nachtarbeitern. Sie wird Auftraggeber, sourced out, konzentriert sich auf die Supervision von Fremdarbeit und reiht sich ein, als Glied in ihre eigene Wertschöpfungskette.
»Eine Frage der Zeit«. Der Titel der Ausstellung ist zugleich Titel der zentralen Wandarbeit, einer Tätigkeitsstatistik der Künstlerin über die letzten 16 Jahre. Ein wandfüllender Zeitstrahl ordnet und quantifiziert den Zeitaufwand ihrer Beschäftigung mit Kunstproduktion, Ausstellungstätigkeiten und Geburten, ein entemotionalisiertes Leistungsdiagramm. Bewusst fehlen Vergleichswerte. Den Maßstab setzen wir uns gezwungener Maßen selbst. Der Künstlerin jedenfalls ist es präsent, das Arbeiten bis zur totalen Erschöpfung, Halluzinationen, medizinische Betreuung wegen Überlastungserscheinungen. Es gehört zur Freiheit der Kunst, das eigene Lebenszeitkonto aus Neugierde und Lust zu überziehen, das Lohnen und Belohnen im eigenen Tun auszutesten. Grundlegend ist die Zeit, eine endliche Ressource. Wir können mit ihr gehen oder gegen sie kämpfen. Irgend etwas wird passieren. Meyer überlässt es uns.
Michael Grzesiak, 2014