Ich bin klitschnass – dabei lag das Niederschlagsrisiko nur bei 41 %. Meine Schuhe quietschen bei jedem Schritt und hinterlassen kleine schmutzige Pfützen in den
hell erleuchteten Galerieräumen. In der Ausstellung „Going where the weather suits my clothes“ von Heide Nord in der Galerie b2 treffe ich auf Werke einer Künstlerin, die sich scheinbar alle Mühe gibt, Kreativität zu verweigern und Normen aufzugreifen. Seit 2011 entstehen neben ihren Skulpturen und Installationen Malereien, die auf Daten des Statistischen Bundesamtes basieren. Malen nach Zahlen also. Konkrete Abstraktionen auf A4-Blättern, dem Bürostandard schlechthin.
Farbige Balken, Kurven und zuckende Linien breiten sich über die gerasterten Blätter.
Ein Titel zieht mich an und informiert – „I used to work in a club, where they never came to dance – 6 Blätter zur Wertigkeit von Kultur für das alltägliche Glücksempfinden der Bevölkerung und ihre staatliche Förderung“. Ich sehe Balkendiagramme auf gräulichem Hintergrund. Kein Wunder das in diesem Club niemand tanzt. Das alltägliche Glücksempfinden der Bevölkerung, statistisch gefasst, lässt das daueroptimierte, kreativ er-
schöpfte Subjekt im Mittelwert verschwinden. Hier drückt sich der Tanz der Verhältnisse auf das Papier.
Diagramme sind das Gegenstück zu den medialen Bildern tragischer Einzelschicksale, die meine Gefühle ansprechen. Sie argumentieren nicht mit Emotionen, sondern stellen Zusammenhänge dar und versprechen Objektivität, Berechenbarkeit und Kontrolle in einer vernetzten, komplexen Welt. In ihnen wird der Zufall zum Prozentsatz und die Gewalt, mit der die statistisch errechnete Zukunft auf mich treffen wird, schlängelt sich in patentiertem Grün und Blau an meiner Aufmerksamkeit vorbei. Es ist auch einfach viel zu kalt in meinen nassen Kleidern, als das „(Get off the Internet) I’ll meet you in
the street – 6 Blätter zur Internetüberwachung durch Google“ einen Bezug zu meinem Leben entwickeln könnte. Aber sollten wir bei Diagrammen überhaupt noch von Abstraktionen reden? Wenn alle meine Aktivitäten Daten hinterlassen, ich mich auflöse in einen Kosmos aus Zahlen und Beziehungen, ist dann nicht ein Diagramm die zeitgemäße Darstellung von mir in der Welt?
Die Dramen von Leben und Sterben, Norm und Abweichung, die sich in Heide Nords Bildern entfalten, unterlaufen die Verheißungen des Diagramms auf Information und Übersicht. Außer den Titeln fehlt jeder weitere Anhaltspunkt an dem ich mich festhalten könnte. Das materielle, haptische der Bilder drängt sich in den Vordergrund: Der Auftrag der Farbe, die Variation der Linien, die Fehler und Verschmutzungen des Rasters durch die Technik der Monotypie. Farbe und Form erzählen Geschichten von einem wissenschaftlichen Weltbild, das aufzeichnet, kategorisiert und normalisiert, um mit der angehäuften Vergangenheit die Zukunft kontrollierbar zu machen. Im Zusammenspiel der Bilder und Skulpturen wird der Ausstellungsraum für mich zur Kultstätte, dessen Rituale mir vertraut und gleichzeitig fremd erscheinen. Der Regen hat aufgehört. Ich gehe nach draußen und lasse die Kassandrarufe der Statistik hinter mir zurück.
Text: Lena Brüggemann