Anna Vovan
Hold your own
Gibt man einer Gruppe Kinder einen Beutel unaufgeblasener Luftballons, so werden die Heranwachsenden mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort in einen Wettstreit treten, um herauszufinden, wer den schlappen Gummibehälter am schnellsten mit der eigenen Atemluft füllen kann. Rasch wird auffallen, wie unterschiedlich hier die willentliche Steuerung der Atmung verläuft, wie sehr sich die Fähigkeiten zum Luftholen und Pusten in Geschwindigkeit und Intensität unterscheiden. Während das eine Kind Ballon nach Ballon zum Platzen bringt, verzweifelt das andere über der Unfähigkeit, die eigene Atmung lenken und funktionalisieren zu können. Ist es schließlich doch gelungen, so will es das Resultat konservieren, um es als Beweis der bewussten Beeinflussung des vegetativen Nervensystems vorzeigen zu können. Ein Erwachsener kommt, knotet den Ballon zu, schließt den Atem ein, schließt die Form und überreicht sie dem stolzen Kind. Der Ballon ist perfekt. Nicht zu unterscheiden von denen eines erfahrenen Aufpusters. Es ist egal, ob es fünf Sekunden oder fünf Minuten gedauert hat, egal wie mühsam die Steuerung der Atmung, der Shift von unbewusster zu bewusster Funktion gewesen ist – das Resultat gibt darüber keine Auskunft. Das Verhältnis zwischen Produktionsbedingung und Produkt wird unsichtbar. Aus dem Atemballon wird ein Luftballon, entkoppelt von Körperfunktion und Mühe, als hätte er sich selbst gefüllt. Wie aber lässt sich dauerhaft sichtbar machen, dass hier ein Mensch mittels seines individuellen Willens und seiner individuellen körperlichen Bedingtheit auf Material eingewirkt hat? Welche Form würde menschlicher Atem erzeugen, wäre er nicht nur Erfüllungsgehilfe einer industriell vorgegebenen Form? Dieser Frage geht Anna Vovan in ihrer Ausstellung Hold your own nach. Unter Anleitung eines Glasbläsers untersuchte die Künstlerin, zu welcher Form es den Atem selber drängt, wenn man ihn lässt. Sowohl in Bezug auf sich selbst als auch auf das erhitzte Material, galt es dabei ein wie auch immer geartetes Einwirken auf die Form möglichst zu vermeiden.
Visuelle Ausdrücke einer vegetativen Funktion begegnen uns auch in David Foster Wallace Kurzprosa „The Suffering Channel“. Die Exkremente von Brint Moltke, einem einfachen Arbeiter aus Indiana, ohne jegliche Kunstkenntnis, formen sich im Dickdarm scheinbar autonom zu Repliken großer skulpturaler Werke. In der Geschichte kommt die Frage auf, ob das, was ohne direkte, willentlich gesteuerte Körperfunktion entsteht, wirklich Kunst genannt werden kann. Moltkes „Skulpturen“, so die Erkenntnis der Romanfiguren, hätten bestenfalls die künstlerische Qualität von Fotografie, die ebenfalls keine Funktion des somatischen Nervensystems beanspruche, also eher einem vegetativen Vorgang gleiche. Licht fällt auf lichtempfindliches Material – kein mit speziellen Fähigkeiten ausgestatteter Körper ist dazu nötig. Nicht Genialität und handwerkliche Fähigkeiten zählen, sondern Demut und Passivität.
Vovans Atemobjekte entstanden ohne Skills und ohne Aktivierung des gestalterischen Willens. Folgt man Foster Wallaces Protagonisten, hätten sie deswegen auch eine gewisse fotografische Qualität. Und tatsächlich behandelt Anna Vovan die entstandenen Atembehälter aus Glas im fortlaufenden Prozess wie fotografische Negative. Mit dem Overheadprojektor durchleuchtet sie Form und Inhalt und lässt die Projektion schließlich auf Fotopapier treffen. Hier beginnt das exakte Arbeiten, der Abschied vom Geschehen lassen, der Einsatz kognitiver Funktionen. Ergebnisse einer vegetativen Produktion werden in einen aktiven Gestaltungsprozess gebracht. Darin erkennbar wird eine Gebrauchsweise von Fotografie, die den passiven Anteilen den größtmöglichen Platz zugesteht. Man arbeitet mit etwas, was da ist, und macht es schließlich zu einem ästhetischen Ereignis.
Auf die Spitze getrieben wird Passivität als bildgebende Methode in der Arbeit 2022. Jeden Tag des Jahres hat Anna Vovan ein A4 Papier mit lichtempfindlicher Lösung eingestrichen und für vierundzwanzig Stunden dem Tages- und Nachtlicht ausgesetzt. Die einzelnen Cyanotypien wurden abfotografiert, zu einem Buch gebunden und werden jetzt in der Ausstellung an die Wand des Galerieraums projiziert. Da Vovan darauf verzichtet hat, die Blätter zu fixieren, ist das, was wir sehen, so schon gar nicht mehr vorhanden. 2022 wird bei jedem Durchblättern erneut dem Licht ausgesetzt, überschreibt sich also bei jedem Betrachtungsvorgang immer wieder selbst. So wie das vergangene Jahr niemals ganz beendet sein wird, weil die Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt, und vice versa. Wie das vegetative Nervensystem arbeitet 2022 von alleine. Man muss sich also keine Sorgen machen: das Herz wird weiter schlagen, Bilder und Formen entstehen von sich aus – wenn man sie nur lässt.
Carsten Tabel
C-Print vom projizierten Objekt
40×30 cm
C-Print vom projizierten Objekt
40×30 cm
C-Print vom projizierten Objekt
40×30 cm
Wandarbeit mit Cyanotypie, unfixiert, lichtempfindlich
240 × 340 cm
C-Print vom projizierten Objekt
40×30 cm
C-Print vom projizierten Objekt
40×30 cm
C-Print vom projizierten Objekt
40×30 cm
C-Print vom projizierten Objekt
40×30 cm