Glitches im Kauriversum
Ein Schwarz-Weiß-Bild aus den 1920er Jahren: Man sieht eine Prozession, drei Männer zu Pferde, alle tragen festliche schwarze Kleidung und Zylinder, der vordere zusätzlich ein Kreuz, das den Zug als Osterprozession kennzeichnet. Die Pferde sind feierlich geschmückt und frisiert, ein Bild dörflich-christlichen Brauchtums einer vergangenen Zeit, könnte man meinen, bis ein Detail unvermittelt ins Auge sticht: Das Geschirr der Pferde ist über und über mit Kaurischnecken in Ketten und Muster gelegt bestickt. Eine Störung im Bild, erwartet man etwas „exotisch“ Markiertes wie die indopazifische Muschel im Souvenirkontext oder in der künstlerischen Auseinandersetzung postkolonialer Kritik, wie im 2022 von Simone Leigh bespielten US-amerikanischen Pavillon auf der Venedig Biennale, und nicht in einem augenfällig im mitteleuropäischen Raum situierten und zudem hundert Jahre alten Bild.
Historisch gesehen passen die auf den ersten Blick unvereinbaren Bildelemente zusammen: Das sorbische Osterreiten hat eine wahrscheinlich noch auf die vorchristlichen Slaw:innen zurückführbare Tradition, die Prozession der Sorb:innen lässt sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Und schon aus dem frühen Mittelalter gibt es Grabfunde, die die Kaurischnecke nördlich der Alpen lokalisieren. In unterschiedlichen Kulturen hat sie verschiedene Funktionen, häufig wird sie mit der Vulva oder dem Auge assoziiert und hilft ihren Träger:innen beispielsweise mit Abwehrzaubern, bei Fruchtbarkeitsritualen oder gegen den bösen Blick. Die Lausitz erreichte sie in der Zeit der Völkerwanderung im 6. Jahrhundert, als die Slaw:innen auf ihrem Weg mehrere Orte kreuzten, in denen Kaurischnecken nachgewiesen sind, beispielsweise im heutigen Böhmen. Aus der Verbreitung, die sowohl den Globus, als auch die Vergangenheit und Gegenwart verbindet und den verschiedenen Zuschreibungen der Kaurischnecke, dem Geschichts- und Konnotationsgeflecht, eröffnet Karoline Schneider ein „Kauriversum“, in dem sie ihre eigene sorbische Herkunft mit einem kulturhistorischen Myzel künstlerisch und wissenschaftlich vereint.
Und doch erfüllt uns das Bild des mit Kaurischnecken geschmückten Pferdegeschirrs mit einem Störgefühl. Ein „kulturelles Flimmern“ entsteht, wie die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal diese Gleichzeitigkeit beschreibt, oder ein „Glitch“, wie es Karoline Schneider ausdrückt. Wahrscheinlich rührt der „Glitch“ von mehreren verinnerlichten Prägungen her. Zum einen ist der heutige Blick zu Recht vom Bewusstsein über cultural appropriation geprägt, gerade im Hinblick auf exotisierende Darstellungen und auf die kontextlose Aneignung von Symbolen, Kulturtechniken und Materialien. Gleichzeitig ist unsere Wahrnehmung noch immer von der Geschichte geprägt, die seit dem 18. Jahrhundert versucht, nationale Stile voneinander abzugrenzen, eine Methode, die sich im erstarkenden exklusiven Nationalismus im 19. Jahrhundert auf die meisten gesellschaftlichen Bereiche übertrug. Und obwohl sich gerade in der Kunst nationale Stile nie seriös voneinander trennen ließen, weil die Welt schon früh globalisierter war, als man es sich ohne Internet und Flugverkehr vorstellen kann, bleibt diese Mär bis heute präsent. Aby Warburg beschreibt diesen kulturellen Austausch im Vortrag „Dürer und die italienische Antike“ (1905) als „Kreislaufvorgänge im Wechsel künstlerischer Ausdrucksformen“ und erweitert bildwissenschaftlich den geographischen Austausch um die zeitliche Verknüpfung verschiedener Epochen. Ein weiterer Glitch-Moment entsteht durch die dezidiert weibliche Symbolik der Kaurischnecke als Vulva und die Verwendung in der patriachalen Tradition des Osterreitens, an dem bis heute nur Männer teilnehmen können.
Karoline Schneider führt all diese historischen Recherchen und theoretischen Konstrukte zusammen und verarbeitet sie künstlerisch. Die Kaurischnecke steht in ihrem „Kauriversum“ als Ausgangspunkt und Stellvertreterin für das Assoziations- und Konnotationsgeflecht, gleichzeitig aber auch für ihre persönliche Erinnerung an das Aufwachsen mit Traditionen, Riten und Symbolen in einer obersorbischen Gemeinschaft. Ihre Ausstellung „sleborny zadk“ („silberner Hintern“) ist eine Collage vieler dieser Verknüpfungen, die sie in einer Art (pop)archäologischen Installation sowohl ästhetisch als auch wissenschaftlich umsetzt. So bildet die Kaurischnecke einen ersten Schwerpunkt, sie findet sich auf den beschriebenen sorbischen Pferdegeschirren, aber auch auf jenen ungarischer und rumänischer Husar:innen oder in stilisierter Form auf dem Helm der Prinzessin Viktoria Luise von Preußen, die Anfang des letzten Jahrhunderts Anführerin eines Leibhusarenregiments war und die Uniform der „Totenkopfhusaren“ trug. Das mehrfache Vorkommen desselben Symbols zeigt, dass seine verschiedenen Verwendungen nicht voneinander getrennt sind, sondern ihrerseits auf ursprüngliche Zusammenhänge schließen lassen.
Ein zweites, immer wiederkehrendes Motiv sind Kerzenmanschetten, grüne Papierüberzüge, die als Tropfschutz über langen weißen Kerzen in den sorbischen pietistischen Herrnhuter Brüdergemeinden zu Weihnachten von Saaldiener:innen in der Gemeinde verteilt werden. Besonders als Konterpart zu den männlichen Osterreitern ist die Rolle der von der Gemeinde „Schwestern“ genannten Frauen und Mädchen signifikant für die weibliche Geschichte. Teilweise stark vergrößert finden sich die Manschetten in der Ausstellung aus Keramik oder patiniertem Kupfer als Kerzenständer oder vasenähnliche Objekte, auch mit Kaurischnecken verziert. Durch die Vergrößerung und Veränderung des Materials lässt sich nur noch ansatzweise ihre Funktion ablesen, sie werden zu abstrakten Ornamenten, deren traditioneller Wert sich aber auch ohne Kenntnis des christlichen Hintergrundes vermittelt.
Ein dritter Werkkomplex führt Elemente der sorbischen Kultur in die Gegenwart bzw. in einen subkulturellen Kontext. Als Teil des Kolektiw Wakuum erzeugt Karoline Schneider weitere „Glitches“, indem sie eine Fernsehsendung inszenieren, in der in einem Nagelstudio Fingernägel mit Techniken des traditionellen sorbischen Ostereiergestaltens wie Wachszeichnungen und Färben dekoriert werden. Mit der Übertragung traditioneller Kulturtechniken in ein zeitgenössisches, popkulturelles Setting erweitert das Kolektiw Wakuum teilweise starre und folkloristische Bräuche und schafft damit Anknüpfungspunkte für junge Sorb:innen. Indem sie nicht nur als Künstlerin ihre Ausstellung gestaltet, sondern kuratorisch Arbeiten der Künstlerinnen Hella Stoletzki und Anna Barth hinzufügt, erweitert Karoline Schneider ein weiteres Mal das Geflecht aus Zusammenhängen und Einflüssen.
Sophia Pietryga