Galerie b2

Local Field

Die surreal anmutende Schönheit eines Mangold-Blattes. Woher kommt sie? Zum einen liegt sie in der kontrastreich hervortretenden Veräderung dieses Blattes. Die Verästelungen treten durch die Belichtung hervor. Sie erlangen Bedeutung, weil das Blatt in der Nahaufnahme eine Aufmerksamkeit erfährt, die es als einfache Mahlzeit nicht hätte. Vor allem aber offenbart sie sich in der als unwirklich empfundenen Färbung.

Verena Winkelmanns Interesse an den Nahrungspflanzen ergab sich aus der Bewegung. Die kontemplative Begegnung mit der „Natur“ ist jedoch ambivalent, denn die seit 2018 von ihr durchstreifte Kulturlandschaft ist bearbeiteter Raum: Anbaufelder sind industrielle Produktionsstätten, in denen es auf das Einzelexemplar einer Pflanze zunächst nicht ankommt. Dem steht das Bemühen um eine ökologisch nachhaltige Landwirtschaft gegenüber. Der einzelnen Pflanze wird hier mehr Aufmerksamkeit geschenkt, sie ist ohne chemische Hilfsmittel den Umwelteinflüssen viel stärker ausgesetzt.

In Großbetrieben werden ästhetische Fragen erst im Kontext der Präsentation, der Werbung und der Handelsnormen relevant. Winkelmanns Beobachtungen in einem ökologischen Kleinbetrieb kehren den ästhetischen Aspekt in eine künstlerische Perspektive um. Darin kommt der Respekt für eine per Hand geleistete landwirtschaftliche Arbeit zum Ausdruck. Die Abbildungen von Nahrungsmitteln in ihrer rohen, unbearbeiteten Form sind das Ergebnis einer Suchbewegung unter die (Erd-)Oberfläche.

VW 1998/2000

Diesen Blick richtet Verena Winkelmann in der Serie VW 1998/2000 auf sich selbst. Die Porträtserie dokumentiert aus der Distanz von über 20 Jahren nicht nur eine Findungsphase weiblich gelesener Identität. Durch das Experimentieren mit den Darstellungskonventionen von „Weiblichkeit“ hält sie auch fest, wie die Künstlerin das Fotografieren für sich einst entdeckt hat – im Sinne einer technischen Apparatur wie auch als Inszenierungsversuche der eigenen Person. Da es Selbstporträts sind, hat sie im Gegensatz zu professionellen Models die Kontrolle über das Bild. Weil die Darstellungen von Frauen im Medium Fotografie – sei es als Mode-, Urlaubs- oder Erotikfotografie – durch eingespielte Bildroutinen vorgegeben sind, ist diese Autonomie jedoch trügerisch. Heute bietet die Serie im Kontrast zu veränderten Fototechniken und den Selbstinszenierungen in sozialen Medien die Möglichkeit einer medienhistorischen Reflexion.

Lunch in Norwegian

Eine ähnlich forschende Perspektive nimmt Aleksi Wildhagen mit seinen Gemälden ein. Auch hier treten die Motive als Medium eines Prozesses in Erscheinung. Es geht um die Auseinandersetzung des Künstlers mit seiner unmittelbaren Umgebung, einem eng gefassten Wahrnehmungskreis, der die Person umschließt. Dass Brillen, Aschenbecher oder Sandwiches abgebildet werden, ist für Wildhagen zunächst zweitrangig. Erst im Akt des Malens lässt das Dargestellte einen alternativen, privaten Zwischenraum entstehen, der sowohl für den Künstler als auch für die Betrachtenden einen Zugang zu existenziellen Seinsfragen eröffnet.

Auf dieselbe Weise werden die zahlreichen Selbstporträts zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit der aktuellen Lebenslage. In ihnen äußert sich ein Moment der Verunsicherung: „In letzter Zeit hatte ich das Gefühl, dass mein Körper und mein Geist auf dem Nullpunkt stehen“, sagt Aleksi Wildhagen, „sowohl weil ich ein weißer Mann bin, der nach allgemeiner Meinung gewissermaßen ein langweiliges Alter erreicht hat. Aber vielleicht vor allem, weil ich an einer Nierenerkrankung leide und in diesen Tagen darauf warte, ein Spenderorgan zu bekommen.“

Der Blick auf sich selbst verschärft sich in dem Maße, wie der eigene Körper als prekär empfunden wird, wenn sicher geglaubte Positionen ins Wanken geraten. Die Besinnung auf eine natürliche Umgebung – sei es durch Spaziergänge während einer Pandemie, im Zuge einer Krankheit oder näherrückender Kriege – geschieht bewusst oder unbewusst oft unter dem Eindruck einer Bedrohung. Der Zugriff von etwas, dessen Kontrolle man nicht erlangen kann, heißt immer auch: limitierte Ressourcen, neue Grenzen, das Lernen eines Umgangs mit dem, über das man verfügt.

Selbstermächtigungen

In den Selbstporträts berühren sich die in ihrer Form sehr unterschiedlichen Werkkomplexe von Winkelmann und Wildhagen. Beide kontrastieren den zeitgenössischen Rahmen des „Selfies“ auf je eigene Weise. Während bei Wildhagens Malerei der Aspekt der Dauer ein Gegenstück zum schnellen Smartphone-Schnappschuss ist, stellt sich die Differenz bei Winkelmanns ebenfalls sehr behutsam aufgebauten Bildsituationen durch das Alter der Serie her: Als sie vor gut 25 Jahren entstand, war die Selbstinszenierung auf sozialen Medienplattformen noch kein Gemeingut.

Der künstlerische Umgang mit den Formen der Malerei wie der Fotografie, die analoge Bildschöpfung als ein Gegenentwurf zur heutigen digitalen Alltagspraxis, sind ein aktives Umschreiben – ein Versuch, Kontrolle zu erlangen, Autonomie zu behaupten. Insofern sind sowohl Verenas als auch Aleksis Arbeiten Dokumente von Selbstermächtigungen.

Marcel Raabe, 2022

Verena Winkelmann, Field 10, 2022 C-Print 24,2×36 cm, 5+1 ap
Verena Winkelmann, VW 1998-2000 #96, 2021 Archival Inkjet Print 50×75 cm, 5+1 ap
Aleksi Wildhagen, Lunch in Norwegian, 2022 Öl auf Leinwand, 40,5×50 cm
Verena Winkelmann, Field 1, 2022 C-Print 65×97 cm, 5+1 ap
Verena Winkelmann, Field 2, 2022 C-Print 55×82,5 cm, 5+1 ap
Verena Winkelmann, Field 5, 2022 C-Print 65×43,5 cm, 5+1 ap
Verena Winkelmann, Field 6, 2022 C-Print 65×43,5 cm, 5+1 ap
Verena Winkelmann, Field 12, 2022, C-Print, 36×55 cm, 5+1 ap
Verena Winkelmann, VW 1998-2000 #24, 2021 Archival Inkjet Print 28×42 cm, 5+1 ap