“This is a present from a small distant world, a token of our sounds,
our science, our images, our music, our thoughts and our feelings.
We are attempting to survive our time so we may live into yours.”
Botschaft auf der Voyager Golden Record, 1977
Interstellare Archäologen
Botschaften vom Ereignishorizont des Wissens
Der erste Eindruck sei entscheidend, heißt es.
Im Falle außerirdischer Wesen, die eines Tages von
der Existenz der Menschheit erführen, könnte er
von Goldenen Schallplatten ausgehen: 1977 sandte
die NASA an Bord der Raumsonden Voyager 1 und
2 goldglänzende, kreisrunde und mit Audio- und
Bildinformationen beschriebene Datenträger ins All,
damit sie einst Zeugnis von unserer Spezies
ablägen. Von unserem Planeten, unserer Kultur,
unserer Sprache, unseren Lebenswelten und unserer
Wissenschaft. Nicht indes von unseren Kriegen und
Verbrechen, von unseren Ideologien und Selbstzerstörungen.
Ein verzerrtes Idealbild.
Der erste Eindruck zählt — als Mörder und
Ausbeuter wollen wir nicht gelten. Vielmehr als
Kulturwesen und Wissenswesen, selbstreflektiert,
empathisch und aufgeklärt. Als Entdecker und
Forscher. Bereits fünf Jahre vor der Voyager
schickten die Wissenschaftler um Carl Sagan an
Bord der Pioneer-Sonden Plaketten auf die endlose
Reise. Die darin eingravierte Botschaft zeigte
neben einer seinerzeit umstrittenen Darstellung
von Mann und Frau insbesondere naturwissenschaftliche
Symbolik: die relative Position der Sonne
zum Milchstraßenzentrum, ein Schema unseres
Sonnensystems, die Hyperfeinstruktur des Wasserstoffatoms.
Universelles Wissen für das Universum.
Weiter als die Voyager- und Pioneer-Sonden drang
kein Gegenstand menschlicher Schöpfung je vor;
über 20 Milliarden Kilometer von der Sonne
entfernt, durchquert die Voyager 1 inzwischen den
interstellaren Raum — die unendlichen Weiten,
wie es uns die Popkultur auszudrücken lehrte.
Trotz jahrzehntelanger Ambitionen der Populärwissenschaft
und Science Fiction, den westlichen
Menschen an die Unendlichkeit heranzuführen,
bleiben die Dimensionen kaum fassbar: Bevor ihr
Haltbarkeitsdatum abläuft, passiert die Sonde noch
500 Millionen Jahre lang die gigantische Leere
zwischen planetarischen Nebeln und Dunkelwolken,
zwischen interstellarem Staub und Supernovaüberresten.
In 38.000 Jahren nähert sie sich im Abstand
von 1,7 Lichtjahren erstmals einem Stern, genannt
AC+793888, gelegen im Sternbild Kleiner Bär.
Eine Vorstellung, so unwahrscheinlich wie reizend:
Die Sonde würde einst gefunden und aufgelesen
von extraterrestrischen Wesen, ihrerseits aufgebrochen
möglicherweise von ihrem Heimatplaneten
im Lokalen Superhaufen, der mit seinem Durchmesser
von 200 Millionen Lichtjahren 2.000
Galaxien wie die unsere beherbergt. Aufgebrochen,
um fremde Galaxien zu erforschen, neues Leben
und neue Zivilisationen. Die menschliche existierte
zu jenem Zeitpunkt wohl nicht mehr. Sie dennoch
kennenzulernen, hieße, sich ihr Wesen über
Relikte zu erschließen, gleichsam als interstellarer
Archäologe. Der erste Eindruck vom Menschen:
Ein Symbolwesen, ein Forscherwesen.
Doch wie universell ist die symbolische Darstellung
eines Atoms? Wie galaxienübergreifend das Verständnis
mathematischer, physikalischer, chemischer
Zeichen und Schemata? Eines Kreises, einer
Wellenlänge, gar einer Umlaufbahn oder eines
Planeten? Wie fragil ist unser über Jahrtausende
angehäuftes Wissen angesichts der Unendlichkeit
des Kosmos? Wie anthropozentrisch unsere
Naturwissenschaft, ganz zu schweigen von der
Struktur unserer Sprache? Werden unsere unbewussten
und intendierten Überlieferungen als
Botschaften verstanden? Drücken sich Psychologie,
Geschichte, Vernunft und der Mangel daran in
bruchstückhaften Überbleibseln aus?
Was der Mensch in seiner Bearbeitung der Welt
an Erfahrung sich aneignete, was er sich als Wissen
mühsam erschloss und herstellte, was er schließlich
kategorisierte und katalogisierte, in Enzyklopädien
und Lexika als Kanon zwischen Buchdeckel presste;
was er gegen den selbstgeschaffenen Mythos
und die Religionen verteidigen musste und zugleich
zur Vorbereitung von Barbarei, Vernichtung und
Zerstörung nutzte; was sich in Emanzipation
und Gegenaufklärung gleichermaßen ausdrückte,
sich schließlich in Expertenwissen partikularisierte,
um letztlich dekonstruiert und abermals hinterfragt
zu werden: Was, wenn auch diese Dekadenz
des Wissens sich restlos auflöste? Zum rein
symbolischen Schwirren im Raum geriete, zur
sinnlosen Variation von Aussagen, zum gänzlich
ästhetischen Baukasten aus Formen?
Jene humane Angst vor dem Zerfall, die immer
existierte, bleibt dem neugierigen Betrachter von
außen erspart. Fürchtete das menschliche selbsternannte
Universalgenie die Vereinzelung der
Wissenskulturen, ängstigte die Naturwissenschaftler
die immer drohende Widerlegung ihrer Thesen
und die Kanonbündler die freie Aneignung,
Zugänglichkeit und Produktion des Weltwissens,
stieße der Bewohner des Lokalen Superhaufens,
der menschlichen Sprachen und Schriftkultur nicht
mächtig, auf ein schier unendliches Konglomerat
an Zeichen und Symbolen, Diagrammen und
Schemata, Bildern und Skizzen. Die für die
menschliche Kultur nach der Aufklärung erst seit
wenigen Jahrhunderten essenzielle Trennung und
Ordnung der Diskurse in Kunst und Wissenschaft
wäre ihm fremd und gleichgültig. Entsprechende
Wahrnehmungsgabe und Stofflichkeit vorausgesetzt:
Das bildhafte Material der Menschheit gälte ihm
als unbekannter Spielplatz, auf dem er sich austoben
könnte, um die symbolhaften Ingredienzien
humanen Wissens neu zusammenzufügen.
Was, wenn der mühevoll erschlossene, ausgearbeitete,
überarbeitete, diskutierte, verworfene,
immer wieder neu aufgefächerte und bisweilen
auch tödliche Wissenskosmos der Menschen
im Blick des Lokalen-Superhaufen-Einwohners seine
Sinnhaftigkeit verlöre? Ohne Schrift und Sprache
erschlössen sich Bedeutungen, der Wahrnehmung
eines Kindes gleich, immer wieder neu. Die sich
bietenden Weltartefakte würden wieder und wieder
kombiniert; einem auseinandergenommenen
Uhrwerk ähnelnd, das anders zusammengebaut
lediglich ein Uhrwerk zu sein scheint, aber keines
ist: In der Nachahmung liegt der Versuch, sich eine
fremde Welt zu erschließen. Träte dann das Wesen
menschlicher Kultur und Wissenschaft in seiner
Dialektik, seinen Ambivalenzen und Kontingenzen
gleichsam von selbst zutage? Wie inhärent wäre
den Zeugnissen menschlichen Forschens, Schöpfens
und Wirtschaftens die Anfälligkeit für regressive
Mythen, verdinglichtes Denken und ideologische
Gesellschaftsformen?
Wo der Mensch die Welt einst zu entzaubern gedachte,
würde sie durch die Neuanordnung seiner
Relikte wieder verzaubert. In Benjamin Dittrichs
Ausstellung „Lokaler Superhaufen“ findet sich
jener aufgeklärte Zauber wieder, der dem Blick
des außerirdischen Anthropologen wohl nahekäme.
In einem Nichtbegreifen und Nichtzufassenkriegen
offenbart sich ein spielerischer Umgang mit den
Splittern der (Natur-)Wissenschaften, ein ironisches
Aneignen ihrer Logik und ihres Ethos. Einst dazu
angetreten, unsere Existenz und Endlichkeit zu
fassen zu bekommen, entpuppten sie sich zugleich
in ihrer Vereinzelung als ebenso nützlicher wie
latent bedrohlicher Kult. Was passiert am
Ereignishorizont, an den sich auflösenden Rändern
dieses auf Rationalität und intersubjektiver Nachvollziehbarkeit
basierenden Wissens mit dessen
Symbolen? Was geschieht dort, wo durch Verschieben
der alten Zeichen umfassender Gelehrtheit
neue Bedeutung generiert wird; wo abseits jeder
Gottesfurcht und Wissenschaftsgläubigkeit, abseits
von Herrschaftswissen und ökonomischer Nutzbarmachung
die Faszination für das Unendliche
sich Bahn bricht?
Schließlich wieder: Was geschähe nach dem
Ende der menschlichen Existenz, wenn der erste
Eindruck der Goldenen Platten der Voyagers
und Pioneers fremden Wesen den Weg zur
menschenverlassenen Erde wiese; was geschähe
mit unseren Symbolen und Sprachen, unseren
Büchern und Bibliotheken, unseren Wissenssammlungen
und Weltenzyklopädien? Vielleicht, so
stellt es sich der humanistisch geprägte Mensch
vor, würden sie als Kunst-Relikte bewundert und
gedeutet werden, von rätselnden Zuschauern
irgendwo inmitten des Lokalen Superhaufens.
Maximilian Haase
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