Die kargen Bäume wirken wie ein Wahrnehmungsfilter. Dahinter breiten sich Häuser aus. Sie sind zu erkennen, weil es Winter ist und die Birken keine Blätter tragen. Kleingartenbungalows oder Pavillons, Vorgartenmäuerchen und Parkplatzpoller, auch Neubauten in stadthistorischem Gefüge. Laternen, Zäune, Wellblechdächer. Die realistische Darstellung in den Linolschnitten von Katharina Immekus rückt zunächst die detailliert ausgearbeiteten Objekte in den Fokus. Von Belang ist aber vor allem ihr Verhältnis, die jeweilige Lage: zwischen zwei Sphären, in einem Transitraum, in dem eine Übersetzung stattfinden muss.
Die Bilder selbst lehnen die Vermittlung ab, es ist nicht ihr vordergründiges Interesse. Dieses gilt vielmehr dem Raum, in dem sich dieser Prozess vollzieht. Es handelt sich nicht um spektakuläre Transformationslandschaften, ruinenhafte Monumente des Zerfalls oder gewaltvolles Einbrechen des Menschen in vermeintliche Naturidyllen wie in den Aufbaubildern des Sozialistischen Realismus. Dagegen ist bei Katharina Immekus das unaufgeregte, alltägliche Inventar der Randgebiete zu durchstreifen; temporäre Architekturen, Kleingartenpisten, wüst verschnittene Gebüsche. Schon die zahlreich dargestellten Zäune geben Nachricht von der Beschaffenheit dieser Übergänge, die auch historische Übergänge sind; entlang von Bretterzäunen über Maschendraht zu zeitgenössischem Baustellengitter. Sie sind ein Hinweis darauf, dass die Zeitstrukturen in diesen Grenzzonen anders verlaufen. Es gibt ein räumliches Davor und Dahinter, wie an Silvester ein zeitliches Davor und Danach. Die zeitaufwendigen, handwerklich intensiven Linolschnitte dehnen den schnappschussartigen Augenblick der Sonntagsruhe ins Extreme: Der Ausstellungstitel „Silvester“ bezeichnet den Tag, an dem die Künstlerin stundenlang den Himmel auf den gleichnamigen Linolschnitt übertrug.
Denn Grenzen werden nicht immer so eindeutig gezogen wie bei einem Zaun. Ähnlich unüberwindlich ist eine Hecke. Indem sie vorgibt, Natur zu sein, lenkt sie von der Grenzziehung ab, verwischt die Grenze schon. Und wenn wie auf dem Bild „Silvester“ die Plattenbausiedlung und das Fachwerkdorf fast ineinanderwachsen, scheint sie räumlich aufgelöst. Doch natürlich ist der Bruch ganz deutlich sichtbar: zwischen Alt und Neu, Baum und Beton, dem Einzelnen und den Vielen. Die Peripherien sind dabei keine Wildnis; Natur und Kultur keine Gegensätze, sondern in den Grenzregionen, in denen sich die Künstlerin bewegt, auf sich bezogen, einander zugehörig. Die Kleingartensparte wäre ohne die Stadt nicht vorstellbar, die Stadt nicht ohne den Verweis auf das, was sie nicht ist: ungezügelte Natur. An den Rändern werden Differenzen verhandelbar, Kompromisse gemacht, ein Auge zugedrückt und Unterschiede überhaupt erst festgestellt. Die Randzonen machen Arbeit, auch wenn sie Entspannung versprechen. Katharina Immekus schickt Postkarten von dort.
Marcel Raabe, 2021