Die Aquarelle von Anna M. Kempe zielen direkt ins Herz einer jeden Hobbypsychologin. Wie lässt sich der sorgenvolle Blick des jungen Mannes auf einen anderen deuten? In welcher Beziehung stehen die drei Frauen zueinander? Sind es Freundinnen, Kolleginnen – oder handelt es sich doch nur um eine zufällige Begegnung? Warum ist das Gesicht des Mädchens errötet? Aus Scham? Aus Erregtheit? Aus Glück? Woraus ging die intime Geste der Umarmung zweier Personen hervor? Soll sie Trost spenden oder bestimmte Gefühle bezeugen? Die Bilder geben Rätsel auf, und es ist, hat man eine gewisse Affinität dazu, eine Freude, sich als Betrachterin mögliche Lösungen auszudenken.
Die geschilderten Szenen deuten es schon an: Es geht auf den Bildern von Kempe immer um Figurenkonstellationen – selbst wenn nur eine einzige Person portraitiert wurde. Ihre Mimik und Gestik machen dann stets auch die Verbindung zu Personen außerhalb des Bildes, am Telefon, in den Gedanken oder Erinnerungen, präsent. Im Zentrum stehen demnach Verhältnisse – im doppelten Sinne: nicht nur in Bezug auf die persönlichen Beziehungen, sondern gleichsam im Blick auf Relationen viel allgemeinerer Natur. Denn keinesfalls stellt jedes Bild eine ganz neue Situation und Realität dar. Vielmehr scheinen all die Figuren einer eigenen Welt zu entstammen, einen eigenen Kosmos zu bilden.
Wie lässt sich dieser Kosmos charakterisieren? Die Figuren dieser Welt sind spezifisch und schematisch zugleich. Auf den ersten Blick sind es individuelle junge Menschen, auf den zweiten Blick wirken viele von ihnen alters- und geschlechtslos, ja geradezu ‚wesenhaft‘. Ihre Kleidung ist nicht unmodisch, erinnert manchmal vage an Trends oder Marken der vergangenen Jahre, an Adidas-Schuhe oder den Europa-Pullover. Aber sie bleiben immer Fiktionen, werden nie zu einem Fakt. Das ist auch dem Medium Aquarell geschuldet, das sich durch Blässe auszeichnet, immer auch durchlässig ist, das Motiv in Bewegung versetzt und dadurch Veränderbarkeit suggeriert. Indem sie die Aquarelle in ein unüblich großes Format setzt, verstärkt Anna M. Kempe den Effekt.
Ein weiterer Blick zeigt: Auch die Darstellung der Beziehungen der Figuren weist ein Schema auf: Sie erfolgt häufig über Blicke. Wer blickt wen auf welche Weise an? Diese Frage kennt man aus feministischen Diskursen. Ein populärer Vorwurf lautet: Männer blicken auf Frauen, und machen sie damit zum passiven Objekt, das betrachtet wird, während sie selbst das aktive betrachtende Subjekt darstellen. Dadurch würden Frauen nicht nur in die Defensive eines hierarchisch strukturierten Geschlechterverhältnisses geraten, sondern ihnen wird mehr noch jeder Handlungsspielraum genommen, jede Möglichkeit sich selbst zu ermächtigen.
Diese Konstellation findet man bei den Figuren von Kempe nicht. Bei ihr blicken Frauen auf Frauen, Frauen auf Kinder, Kinder auf Frauen und auch Männer auf Frauen – letztere allerdings nicht dominierend, sondern als gleichwertige Teilnehmer an der Situation. Insofern sind Kempes Arbeiten zwar nicht explizit, wohl aber implizit als feministisch anzusehen. Sie formulieren gerade keine radikalen Zuspitzungen, wie im aktuellen Diskursfeld üblich, sondern bleiben gezielt ambivalent.
Es herrscht in den Bildern eine gewisse Tristesse, mehr aber noch eine respektvolle Atmosphäre vor. In ihr wird spürbar, dass Beziehungen zwischen Menschen immer Belastungen ausgesetzt sind – sei es durch Geschlechterverhältnisse, Konventionen oder schlicht durch geteilte Erlebnisse und Erfahrungen. Sie führen dazu, dass man sich künstlich verhält, immer im Versuch begriffen, dabei möglichst authentisch auszusehen. Solche emotional höchst komplexen Situationen sind der Grundton in den Arbeiten von Anna M. Kempe. Warten, gehen, bleiben – wir wissen nicht, wofür sich die Figuren entscheiden werden. Aber wir können darüber spekulieren.
Annekathrin Kohout, 2020