Die Dystopie, als Gegenbild der Utopie, beschreibt (aus dem Griechischen wörtlich übersetzt) einen schlechten Ort. Dystopien sind düstere Prophezeiungen, Gesellschaftsbilder totalitärer Vernichtung und Überwachung, von Katastrophen durch Seuchen und Verwüstungen, die die Welt umstürzen oder sie in den Abgrund führen. Doris Frohnapfels großformatige Sepiazeichnungen sind zu Beginn der weltweiten Gesundheitskrise aus fotografischen Vorlagen entstanden, Szenen des öffentlichen Raums, die darauf Bezug nehmen – die Piazza voller Barrieren, Absperrungen, Zelte, und Helfende in Schutzanzügen mit Desinfektionssprays. Die einzelnen Szenen könnten Bilder unserer Erinnerung sein (als plötzlich die Pandemie unser Leben aus den Fugen
gerieten ließ) oder Dystopien wie aus einem Science-Fiktion-Film, in denen sich Erfahrungen, Ängste und Fiktion vermischen. Gleichzeitig sind es aber auch reale Szenen, die einen fortwährenden Zustand darstellen, Szenen die sich in unserem Alltag manifestiert haben. Persönliche, kollektive und auch manipulierte Erinnerungsbilder der Außenwelt und der imaginierten Welt verbinden sich.
Die reduzierten Schwarz- Weiß- Zeichnungen zeigen Gegensätzliches auf, beschreiben sowohl Bedrohliches, Irreales als auch Vertrautes. Gitter, Absperrungen und Zäune dienen dem Schutz, ebenso begrenzen sie, sperren ab und sperren ein, ordnen wie kontrollieren. Der weiße Schutzanzug ist heutzutage immer mehr im öffentlichen Raum sichtbar. Als Sicherheitsüberzug wird er zur Bekämpfung, Sicherung und Forschung eingesetzt, in den verschiedensten Situationen, an den verschiedensten Orten: bei der Spurensuche, polizeilichen und medizinischen Einsätzen, Kontrollen
und Überwachungen – bei Katastropheneinsätzen, nach dem Tsunami und den Reaktorexplosionen in Fukushima, bei der Sicherung von Massengräbern, bei der Evakuierung von Menschen, um kontaminierte Trümmer wegzuräumen, aber auch bei den Klimaprotesten (Hambacher Wald, Lützerath usw.), in Kliniken und Testzentren, an Tatorten und ebenso an archäologischen Fundorten. Der Anzug als Schutz vor der Außenwelt verhüllt, uniformiert, anonymisiert den Menschen. Die Person darin wird unsichtbar, erscheint dadurch befremdlich, bedrohlich, ebenso absurd und beinah komisch.
Vorlagen der Zeichnungen sind Pressefotos, die nach ihrer Tauglichkeit für die Darstellung als Outlinezeichnung sortiert werden, um als Skizzen und Materialsammlung im Format 35 x 28 cm mit Sepiatusche und Pinsel (vor-)gezeichnet zu werden. Die endgültigen Großformate entstehen über eine Overheadprojektion auf ein großes Papier an der Wand, wiederum mit Pinsel und Sepiatusche. Den technischen Möglichkeiten der Fotografie folgend können die Zeichnungen je nach Bedarf vervielfältigt werden (und sind damit Unikateditionen). Die Tuschezeichnungen erinnern zunächst vielleicht an die Arbeiten Raymond Pettibons, doch unter scheiden sie sich davon grundlegend, da Pettibon vom Comic und Frohnapfel von der Fotografie her kommt. Doris Frohnapfel verwendet die Fotografie als Referenz und Vorlagenmaterial, arbeitet als Zeichnerin wie mit einem Kameraobjektiv, dokumentiert, zoomt heran und zeigt Ausschnitte und Details. Durch die Vergrößerung verändern sich die realen Szenen, werden surreal und abstrakt, verwandeln sich in Formen, Farbverläufe, Striche, Raster und Muster. So lösen sie sich ins Undurchsichtige, Willkürliche und Paradoxe auf. Schutzmaßnahmen scheinen ins Leere, ins Nichts zu laufen. Unklar, ob sie uns helfen oder beschützen können, ungewiss, was sie anrichten oder wie sie die Gesellschaft verändern werden, kreisen sie um die Welt, vernetzen und verirren oder verlieren sich.
Babette Richter
sepia brush drawing, Fabriano Accademia paper
168 x 118 cm
sepia brush drawing, Fabriano Accademia paper
168 x 118 cm
sepia brush drawing, Fabriano Accademia paper
168 x 118 cm
sepia brush drawing, Fabriano Accademia paper
168 x 118 cm
sepia brush drawing, Fabriano Accademia paper
168 x 118 cm
sepia brush drawing, Fabriano Accademia paper
168 x 118 cm